„Literatur ist mehr als das, was man in der Mittelschule hört.“ Eine Erfolgsgeschichte mit Rückschlägen: das Forum der Jugend (1962-1982)

Dass die Förderung einer jüngeren Generation von Beginn an ein Anliegen der Österreichischen Gesellschaft für Literatur war, beweist die von Wolfgang Kraus gehaltene Gründungsrede, denn der 10. und letzte Punkt der genannten Zielsetzungen lautet wie folgt:

In engem Kontakt mit der Universität und den Schulen wird der Versuch gemacht, das Interesse an Literatur, am literarischen Leben überhaupt, zu stimulieren. Wir haben vor, in individuellen Gesprächen mit Rat und Tat junge Talente anzuregen, ihnen Wege zu zeigen, Türen zu öffnen und für sie konkrete Voraussetzungen zu schaffen. Also soweit dies möglich ist, für eine Literatur der Zukunft Sorge zu tragen.

(Kraus, Wolfgang: Gründungsrede, 18. Dezember 1961, ÖGfL-Archiv)

Das Vehikel, mit dem man dieses Interesse zu erwecken erhoffte, war das sogenannte „Forum der Jugend“, das knapp ein Jahr später, im November 1962, ins Leben gerufen wurde. Diese Programmschiene für junges Publikum, die sich an Schüler*innen der 7. und 8. Schulstufe sowie an Studierende richtete, beinhaltete sowohl Vorträge zu Literaturgeschichte- theorie und -soziologie als auch Lesungen und Gesprächsrunden mit Autor*innen, die zumeist mit Auftritten bei einer Abendveranstaltung für die breite Öffentlichkeit verbunden wurden.

Zunächst wurde das Forum der Jugend von dem ÖGfL-Mitarbeiter Kurt Benesch in Zusammenarbeit mit Gerhart Rindauer und Rüdiger Engerth geleitet, wobei Kurt Benesch für die Gesamtorganisation der Reihe zuständig war und Gerhart Rindauer und Rüdiger Engerth die jeweiligen Einheiten moderierten bzw. eigene Vorträge hielten. Im ersten – sich nach dem Schuljahr richtenden – Arbeitsjahr 1962/63 gab es 13 Zusammenkünfte, in denen das Rahmenthema „Österreichs Beitrag zum Expressionismus“ verhandelt wurde; im zweiten Jahr folgten 15 Veranstaltungen, die sich den beiden Arbeitskreisen „Aufbruch ins 20. Jahrhundert“ und „Gespräche mit österreichischen Dichtern“ widmeten. Den absoluten Höhepunkt dieser Anfangsjahre stellte laut Herbert Kraus, der für die Neuen Wege aus dem Forum der Jugend berichtete, die „literarische Plauderei“ mit Fritz Hochwälder dar, die, „bei der Jugend wie auch bei Hochwälder selbst Begeisterung auslöste“ (Kraus, Herbert: Theater des Gewissens. In: Neue Wege, April 1963). Ebenfalls sehr überfüllt waren, so Herbert Kraus, „die Räume der Gesellschaft im Palais Wiczek […] bei der ersten Diskussion um Kafkas Werk“, sodass „man ihr eine zweite folgen ließ.“ (Kraus, Herbert: Jugend und Literatur. Ein Jahr „Forum der Jugend“. In: Neue Wege, September 1963, ÖGfL-Archiv) Diese Veranstaltung wurde auch von einem Journalisten der Zeitschrift Neues Österreich besucht, der festhielt:

[Die Diskussion] wird nicht nur von Engerth, Rindauer, Corti [Anm: Axel Corti las Kafkas Der Hungerkünstler] und dem ebenfalls anwesenden Gerhard Fritsch bestritten; die Jugendlichen greifen ein und liefern nahezu den besten Teil: persönliche Empfindungen, frei von der Polemik erwachsener Diskussionen, bemüht um die Bewußtmachung der eigenen Meinung. […] Vom Veranstaltertisch aus wird korrigiert, ergänzt; wenn gelegentlich etwas zuviel vorausgesetzt wird, hat das garantiert anregende Wirkung.

(R.Z.: Kafka für literaturhungrige Jugend. In: Neues Österreich, 31. Jänner 1963)

Ganz anders liest sich jedoch ein Artikel, der ein Jahr später in der Zeitschrift Neue Wege erschien. Sein Autor Peter Lürzer hatte einer Veranstaltung mit Peter von Tramin beigewohnt und kritisierte folgendermaßen:

Wo blieb die Jugend in diesem Forum der Jugend? Sie war zwar anwesend, kam aber nur selten zu Wort. Alle […] Einwände und „Neuinterpretationen“ stammten von den älteren Herren, die auch die Hälfte des Publikums ausmachten. Eingeschüchtert saßen ein paar Mittelschüler in der Ecke.

(Lürzer, Peter: „Forum der Jugend“. In: Neue Wege, Februar 1964)

Damit waren alle Probleme benannt, die auch eine im selben Jahr durchgeführte Befragung der Teilnehmer*innen des Forums der Jugend zutage brachte: Das Niveau war durchaus zu hoch für die meisten Jugendlichen angesetzt, wodurch sich hauptsächlich die wenigen Studierenden an den Diskussionen beteiligten, während die Mehrheit der Schüler*innen sich aufgrund des noch fehlenden Basiswissens nicht traute, etwas beizutragen. Viele Teilnehmer*innen gaben an, das Format dennoch sehr zu schätzen; es wurde jedoch auch angeregt, eigene Veranstaltungen mit niedrigerem Niveau für die Jüngeren anzubieten. Auch der damalige Student und spätere Germanist Wendelin Schmidt-Dengler nahm an dieser Umfrage teil; er gab an, zwar selbst häufig das Wort zu ergreifen, merkte aber ebenfalls die Notwendigkeit eines eigenen Kursus für „noch unmündige, aber angehende Literaten“ (Wendelin Schmidt-Dengler, Fragebogen, 19. Februar 1964, ÖGfL-Archiv) an.

Auf diese Kritik reagierte man unmittelbar, denn noch im selben Jahr entstand zur Ergänzung des „großen“ Forums das „Kleine Seminar“ unter der Leitung von Gerhard Fritsch und Fritz Fassbinder, welches sich mit dem Ziel, den Jugendlichen „fachgerechte Gespräche zu ermöglichen“ (Kraus, Herbert: Das „Forum der Jugend“ im dritten Jahr. In: Neue Wege, Oktober 1964, ÖGfL-Archiv), der Einführung in die Textinterpretation und Literaturwissenschaft widmete.

Zwar bot Herbert Kraus‘ Artikel auch eine Vorschau auf die Saison 1964/65 – diese sollte im „großen“ Forum den Themenkomplex „Grundprobleme des 20. Jahrhunderts“ angehen und den Jugendlichen neben dem schon etablierten Seminar für Textkritik auch ein eigenes, von Gerhard Fritsch geleitetes „Autorenseminar“ offerieren –, aus nicht näher erläuterten Gründen kam es jedoch nicht dazu. Erst 1966 wurde das Forum der Jugend unter der neuen Leitung des ÖGfL-Mitarbeiters Herbert Zand – unter Mitarbeit von Kurt Benesch und Gerhard Fritsch – sowie einem neuen Konzept wiederaufgenommen. Wie Zand in einem Brief an die Direktionen der Gymnasien schrieb, hatte sich die ÖGfL

nach längerer Pause entschlossen, das FORUM DER JUGEND in neuer Form weiterzuführen. Es hat sich gezeigt, dass die Idee eines literarischen Arbeitskreises für junge Menschen bei vielen Teilnehmern noch immer Interesse findet, wir wollen also versuchen, unter Ausschaltung aller Extreme in aktuellen Vorträgen und Diskussionen jungen Menschen die Probleme der Gegenwartsliteratur (unter spezieller Berücksichtigung der österreichischen) wieder nahezubringen. Technische Gründe haben uns dazu bewogen, von grösseren Veranstaltungszyklen abzusehen und uns für sorgfältig ausgewählte Einzelvorträge, -lesungen und -diskussionen zu entscheiden. Das Echo auf unsere bisherigen Bemühungen hat uns bewiesen, dass diese Form, die nicht den Charakter eines Lehrganges haben soll, sondern in ihrer Vielfalt den mannigfachen Strömungen und Aspekten unseres gegenwärtigen Kulturlebens gerecht wird, auch den Wünschen der meisten jugendlichen Teilnehmer entspricht […].“

(Herbert Zand, Massenbrief an Direktionen, Oktober 1966, ÖGfL-Archiv)

In der Saison 1966/67 fanden 12 Einzelveranstaltungen zu höchst unterschiedlichen Themengebieten – von Jugendliteratur über Bertolt Brecht bis hin zu Frederico Garcia Lorca – statt, und auch Gegenwartsliteratur junger Autor*innen war durch eine Lesung von Jutta Schutting, Hans Raimund und Michael Scharang vertreten. Nicht umgesetzt werden konnte ein von Herbert Zand angefragter Auftritt von Alfred Andersch, der zwar zu der Abendveranstaltung zusagte, trotzdem er „öffentliches vorlesen immer grässlich finde“, hinsichtlich der Einladung in das Forum der Jugend aber ablehnend anwortete:

es geht nicht ums datum, das liesse sich schon einrichten, ich habe nur einen horror vor dem diskutieren mit jungen leuten, da kommt man doch unweigerlich ins sich-selber-interpretieren-müssen, und wenn ich daran denke, schaudert es mir. ich bin kein mann der öffentlichen auftritte, sondern ein happy introvert – ich hoffe, Sie verstehen das und sind mir nicht böse!

(Alfred Andersch an Wolfgang Kraus und Herbert Zand, 16. Oktober 1966, ÖGfL-Archiv)

Bemerkenswert an diesem Programm ist, dass im Arbeitsjahr 1966/67 erstmals ein Vortrag des Deutschlehrers und Universitätslehrbeauftragten für Kinder-und Jugendliteratur Viktor Böhm stattfand. Als Herbert Zand schon im Jahr darauf aus Krankheitsgründen die Leitung des Forums der Jugend erneut an Kurt Benesch übergeben musste, konnte dieser Viktor Böhm, der ab diesem Zeitpunkt viele Vorträge übernahm, zur Mitarbeit an der Programmschiene überreden. Wie Helmuth A. Niederle, ein ehemaliger Schüler Böhms, jahrelang Stammgast im Forum der Jugend, später selbst ÖGfL-Mitarbeiter und heute Präsident des Österreichischen P.E.N.Clubs, berichtete, organisierte sein damaliger Deutschlehrer das Forum der Jugend über Jahre hinweg gemeinsam mit Kurt Benesch:

 

Mit diesem erneuten „Regimewechsel“ mitten in der Saison 1967/68 wurden weitere Neuerungen eingeführt, um die Jugendlichen anzusprechen. Nicht nur hielt man weiterhin den Kontakt mit den Direktionen, auch versuchte man durch die Auslegung grafisch ansprechender Einladungen vor dem Audimax, studentisches Publikum zu erreichen. Die darauf gedruckten, teilweise lyrischen Texte richteten sich direkt an ihre jugendlichen Leser*innen und sollten zum aktiven Mitmachen anregen. So wurde etwa ein Vortrag des Germanisten Herbert Zeman zu einer Kurzgeschichte Doderers folgendermaßen beworben:

Text liegt bei.

Sehen Sie sich ihn an!

Was sagt er Ihnen?

Gefällt er Ihnen?

Missfällt er Ihnen?

Warum?

Bereiten Sie Fragen vor!

Diskutieren Sie mit!

(Einladung zu „Heimito von Doderer: BISCHOF – TOLLGEWORDEN“ am 15. Mai 1970, ÖGfL-Archiv)

Ein weiteres Beispiel für die kreative Einladungsgestaltung ist jene zur Lesung der damals jungen Autorin und späteren Leiterin der ÖGfL Marianne Gruber:

Kommen Sie zu [sic]

Hören Sie,

ob sie Ihnen etwas,

ob nichts,

ob wenig

oder ob viel

zu sagen hat.

Und dann sagen Sie ihr,

was Sie zu ihr

zu sagen haben!

(Einladung zum Gespräch mit Marianne Gruber am 19. Februar 1975, ÖGfL-Archiv)

Die auf den Einladungen versprochene Möglichkeit, sich aktiv zu beteiligen, stand nun klar im Mittelpunkt des Forums der Jugend. Davon zeugen nicht nur die Tatsache, dass man bemüht war, für die Teilnehmer*innen immer wieder kostenlose Theaterkarten zu besorgen und der Umstand, dass zu jeder Veranstaltung ein zu dem Thema passendes Quiz entwickelt wurde, bei dessen richtiger Beantwortung Sachpreise in Form von Büchern winkten. Sondern auch das von Gerhard Fritsch geleitete textkritische Seminar wurde im März 1969 reaktiviert. Wie sich der damalige Teilnehmer Helmuth A. Niederle erinnerte, bestand dessen Reiz darin, dass Fritsch Texte bekannter Autor*innen „anonymisiert“ und damit zur unvoreingenommenen Betrachtung bereitgestellt habe:

 

Leider musste das so interessant begonnene Seminar jedoch aufgrund des tragischen Todes von Gerhard Fritsch nach nur zwei Einheiten eingestellt werden. In der am 25. März 1969 an die Teilnehmer*innen geschickte Aussendung hieß es:

Ob ein solches textkritisches Seminar in dieser, in ähnlicher oder auch anderer Form im Rahmen des FORUMS DER JUGEND noch wird stattfinden können, können wir im Augenblick nicht sagen.

(Kurt Benesch, Forum der Jugend-Aussendung, 25. März 1069)

Für das Forum der Jugend bedeutete der Tod von Gerhard Fritsch einen großen Verlust. Dass sich kein/e Nachfolger*in für Veranstaltungen dieser Art finden lassen sollte, verwundert nicht, hatte Fritsch doch ein originäres Konzept entwickelt und, wie aus einem Jahre später verfassten Brief von Wolfgang Kraus an einen Mitarbeiter der Neuen Gesellschaft für Literatur Berlin hervorgeht, „diese Übungen ganz spontan und nur aus seinen richtigen Kenntnissen der Materie und seiner Begabung heraus gestaltet“ (Wolfgang Kraus an Hannes Schwenger, 14. Juni 1974, ÖGfL-Archiv). Fritschs literarische Seminare und weitere Formate des Forums der Jugend stellten für Helmut A. Niederle als Jugendlichen eine große Bereicherung da, indem sie einen deutlichen Gegensatz zum an der Mittelschule üblichen Frontalunterricht bildeten und zeigten, dass „die Literatur größer ist als das, was man in der Mittelschule hört“:

 

Eine Besonderheit des Forums der Jugend stellte von Anfang an der Kontakt zu den Autor*innen dar, der sich in dem kleinen Kreis der Diskutierenden viel intimer gestalten konnte als bei einer regulären Abendveranstaltung. Nicht jeder und jedem gelang es allerdings gleichermaßen, die jungen Zuhörer*innen zu beeindrucken. Wie Helmuth A. Niederle erzählte, war es vor allem die Qualität, sich den Fragen der Teilnehmer*innen ohne vorgefertigte Antworten zu stellen, mit der man diese für sich einnehmen konnte:

 

Dass jedoch nicht nur Autor*innen sondern auch Vortragende die Begeisterung der Jugendlichen gewinnen konnten, beweist ein Brief des Germanisten Herbert Zeman, der, überwältigt ob des großen Ansturms sowie des Erfolgs seines Vortrags über Heimito von Doderer, an Wolfgang Kraus schrieb:

Die rund siebzig Zuhörer – eine für einen solchen Anlaß sehr stattliche Zahl – haben allesamt große Aufmerksamkeit bewiesen. Besonders auch die jungen Leute zeigten ein derartiges Interesse, daß dies wohl mit der schönste Dank war, den ich mir erwerben konnte. Überdies verlange das Auditorium einen zweiten Vortrag mit der Bitte um eine Interpretation und Diskussion über ein weiteres Werk Doderers. Ich bin diesem Wunsche herzlich gern nachgekommen. Auch dieser Abend bedeutete für ich ein Erlebnis in bezug [sic] auf die mindestens ebenso zahlreich wie beim ersten Mal erschienenen jungen Zuhörer. Wenn ich Ihnen also heute nochmals für die Einladung, in ihrer Gesellschaft zu sprechen, herzlich danke, so will ich diesem Dank meine Glückwünsche an Sie und Herrn Dr. Benesch beischliessen. Sie haben unter der kundigen Führung Dr. Beneschs mit dem „Forum der Jugend“ eine hervorragende Plattform geschaffen, die entscheidend dazu beitragen kann, unsere jungen Talente zu fördern und zu positiver, fruchtbarer, literarischer und überhaupt kultureller Arbeit anzuregen.

(Herbert Zeman an Wolfgang Kraus, 27. Mai 1970, ÖGfL-Archiv)

Kurt Benesch zeichnete sich bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1981 für das Forum der Jugend verantwortlich, das über die Jahre hinweg gut besucht war. Danach führte es der ÖGfL-Mitarbeiter Kurt Klinger weiter – bis es im Mai 1983 eingestellt wurde. Die zwanzigjährige Erfolgsgeschichte des Forums der Jugend, die sicherlich auch als ein Herzensprojekt des Gespanns Kurt Bensch-Viktor Böhm-Gerhard Fritsch bezeichnet werden kann, muss damit jedenfalls als von dem restlichen Veranstaltungsprogramm relativ unabhängige Einzelleistung bestimmter Mitarbeiter begriffen werden.

Quellenangaben

ÖGfL-Archiv

Ebel, Ursula; Englerth, Holger: Im Rahmen des Projekts „Die Österreichische Gesellschaft für Literatur. Selbstverständnis, Literaturförderung, Kulturpolitik (2016–2017)“ geführtes Interview mit Helmuth A. Niederle, Wien, 13.7.2017.

Zitierhinweis

Kiefer, Nicole: „Literatur ist mehr als das, was man in der Mittelschule hört.“ Eine Erfolgsgeschichte mit Rückschlägen: das Forum der Jugend (1962-1982). Abrufbar unter: https://ogl.univie.ac.at/aus-dem-archiv/literatur-ist-mehr-als-das-was-man-in-der-mittelschule-hoert-eine-erfolgsgeschichte-mit-rueckschlaegen-das-forum-der-jugend-1962-1982/

 

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