Stanisław Lems Rückzug ins neutrale Wien der 1980er Jahre

1983 verfasste Wolfgang Kraus die offizielle Einladung für Stanisław Lem und seine Familie, die für einen längeren, finanziell abgesicherten Aufenthalt in Österreich notwendig war.

Das am 13. Dezember 1981 vom damaligen Ministerpräsidenten Jaruzelski in Polen verhängte Kriegsrecht, welches zum Ziel hatte, die Solidarność-Bewegung niederzuschlagen, führte zu Lems Wunsch, das Land zu verlassen. Sein Literaturagent Wolfgang Thadewald verhalf ihm zur Ausreise nach Westberlin, sein Verleger bei Suhrkamp, Siegfried Unseld, mit dem Kraus seit den 1960ern in engem Austausch stand, vermittelte Lem ein Stipendium beim Wissenschaftskolleg in Berlin. Ebenfalls ein Stipendium bei dieser renommierten Institution hatte zum selben Zeitpunkt ein weit weniger bekannter Kulturpublizist erhalten, nämlich Wolfgang Kraus.

Das Einladungsschreiben für Lem stammt – anders als etwa in der Biografie von Alfred Gall oder in dem Erinnerungsbuch des Sohns Tomasz Lem angeführt, vermutlich aufgrund von Übersetzungsschwierigkeiten – nicht vom ‚Österreichischen Schriftstellerverein‘, sondern von der ‚Österreichischen Gesellschaft für Literatur‘. Den geplanten Wien-Aufenthalt begründet Wolfgang Kraus wie folgt:

Sehr geehrter Herr Lem,

die „Österreichische Gesellschaft für Literatur“ erlaubt sich, Sie für einen längeren Studienaufenthalt in Wien einzuladen. Wie wir wissen, befassen Sie sich mit einer Reihe von Problemen, über die auf Grund des in Wien vorhandenen wissenschaftlichen Materials besonders ertragreich geforscht werden kann. Wir sind gern bereit, Ihnen alle Wege zu den dazu wichtigen Institutionen zu ebnen […]. Gerne wollen wir für Sie, für Ihre Frau und Ihren Sohn, die wir in unsere Einladung einschließen, eine unserer Gästewohnungen zur Verfügung stellen. Selbstverständlich sorgen wir für die Kosten Ihres Aufenthalts in Wien. (Wolfgang Kraus an Stanisław Lem, 6. Mai 1983, ÖGfL-Archiv

Dieses Schreiben führte zu einem langjährigen Aufenthalt Lems und seiner Familie in Österreich (bis 1989) und beförderte eine intensive Rezeption des Autors hierzulande: er erhielt etwa den ›Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur‹ (1985), den ›Franz Kafka Preis‹ (1991) und trat sowohl im ORF als auch in der ÖGfL mehrmals auf.

 

Literaturangaben

Gall, Alfred: Stanisław Lem. Leben in der Zukunft. Darmstadt: Theiss 2021, S. 221.

Lem, Tomasz: Zoff wegen der Gravitation: Oder: Mein Vater, Stanisław Lem. Wiesbaden: Harrassowitz 2021, S. 112.

Ebel, Ursula; Kiefer Nicole: Vom Kakanischen in Berlin zum ‚Österreichischen Staatspreis‘: Stanisław Lems Rückzug ins neutrale Wien der 1980er Jahre und die Rolle der ‚Österreichischen Gesellschaft für Literatur‘, Abdruck in der Zeitschrift Prace Literaturoznawcze Juli/August 2022

Zitierhinweis

Ebel, Ursula: Stanisław Lems Rückzug ins neutrale Wien der 1980er Jahre. Abrufbar unter: https://ogl.univie.ac.at/aus-dem-archiv/stanislaw-lems-rueckzug-ins-neutrale-wien-der-1980er-jahre/

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