„Mit Glanz und Gloria“: literarische Großereignisse in Wien

Die erfolgreiche Einladung weltbekannter Autor*innen und Intellektueller wie W.H. Auden, Theodor W. Adorno, Julian Greene, Patricia Highsmith, Siegfried Lenz, Peter Ustinov oder Martin Walser trug nicht nur zum Renommee der Literaturgesellschaft bei, sondern füllte auch die Veranstaltungssäle. Als diesbezüglich legendär erwies sich gleich die allererste von der ÖGfL organsierte Großveranstaltung: Max Brods Vortrag Die Prager Literatur des Jahrhundertanfangs und Franz Kafka, welcher am 6. Oktober 1964 im Großen Redoutensaal der Wiener Hofburg stattfand.

Max Brod im Redoutensaal

Der über 600 Plätze fassende Saal musste, wie wenige Tage später im Kurier zu lesen war, aufgrund des hohen Andrangs schon eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung polizeilich abgeriegelt werden, „um die auf dem Josefsplatz anschwellende Liebe der Wiener zur Literatur einzudämmen. Hunderte Menschen waren bereit, die Einfallstore zum Redoutensaal zu stürmen.“ (Angerer, Elisabeth: Polizeistunde für den Redoutensaal. Max Brod sprach für die Literaturgesellschaft über Prag und Franz Kafka. In: Kurier (Morgenausgabe), 9. Oktober 1964, ÖGfL-Archiv)

Angeblich sollen sich zu diesem Zeitpunkt schon über 900 Besucher*innen in dem Saal aufgehalten haben; einige weitere hundert Personen wurden wieder weggeschickt. „Die 400 „Überzähligen“ waren“, wie die Salzburger Nachrichten berichteten, „so erbittert, daß Dr. Wolfgang Kraus zwecks Beruhigung auf der Straße eingreifen und der Beginn der Veranstaltung um fast eine halbe Stunde verzögert werden mußte.“ (Hartl, Edwin: Auch der Redoutensaal war zu klein. In: Salzburger Nachrichten, 13. Oktober 1964, ÖGfL-Archiv)

Nur wenige der nicht überpünktlich Erscheinenden hatten, wie Lothar Sträter vom Feuilleton beschrieb, das Glück, sich noch hineinschmuggeln zu können:

Wer zu normaler Zeit zum Redoutensaal kam, sah vor dem polizeilich versperrten Tor einen aufgebrachten Menschenknäuel, in dem sich Studenten, Lehrer, Literaten, Hofräte und hohe Beamte des Unterrichtsministeriums bunt gemischt drängten. Aus allen Ecken tönten unwillige Rufe, die Titel und Privilegien verschiedenster Art gegen den literarisch unzuständigen Ordnungshüter schleuderten […] Nachdem sich ein Helfer des Dr. Kraus mit dem Ruf: „Ich muß erst mal den Brod hereinbringen!“ der Privilegienbrandung entzogen hatte, nachdem Studentenspähtrupps unverrichteter Dinge von Erkundungsgängen […] zurückgekehrt waren, erschien der Chef selbst mit bekümmerter Miene, sammelte einige besonders Privilegierte und einige, die sich dazudrängten, um sich und trat mit ihnen einen sehr weiten Umgehungsmarsch an.

(Sträter, Lothar: Wien drängte nach Brod. Interesse für Literatur wächst in Österreichs Hauptstadt. In: Feuilleton, 14.Oktober 1964, ÖGfL-Archiv)

Obwohl Franz Kafka zu Beginn der 60er Jahre ungemein populär geworden war, hatte eine solche Begeisterung wohl weder Wolfgang Kraus selbst – der noch am Veranstaltungstag Flugblätter verteilen hatte lassen – noch der Journalist Lothar Sträter erwartet, der ob der Tatsache, dass eine derart große Anzahl an Menschen zur Hofburg gepilgert war, um den Förderer Kafkas zu sehen, festhielt:

Die „Österreichische Gesellschaft für Literatur“ […] scheint mit ihren Vortragsabenden und „Buchpremieren“ Wien zu einer Literaturstadt zu machen – was noch nie der Fall war.

(ebd.)

Zwar dürfte die Anzahl der bei dieser Veranstaltung abgewiesenen Besucher*innen in der Geschichte der Institution einmalig geblieben sein, dennoch mussten auch in späteren Jahrzehnten immer wieder Veranstaltungsräume gesperrt werden.

Günter Grass im Palais Trauttmansdorff

Ein solcher Fall trat etwa bei Günter Grass‘ Lesung aus Die Rättin am 5. Februar 1986 ein, denn wie die ÖGfL in einer APA Meldung mitteilte, war der Zulauf des Publikums derart groß, dass der angemietete Raum – der 220 Plätze fassende Große Saal des Palais Trauttmansdorff – polizeilich gesichert werden musste:

6. Februar 1986: Überfüllung bei Lesung Günter Grass. Wegen des Ansturms einer großen Publikumsmenge mußte der Saal bereits eine Viertelstunde vor Beginn gesperrt werden. Polizei mußte einschreiten, und die leidenschaftlichen Günter-Grass-Fans vom gewaltsamen Eindringen in die Räume […] abzuhalten.

(APA Meldung, 6. Februar 1986, ÖGfL-Archiv)

Der mit diesem Aufritt sowie einem weiteren in Wolfgang Kraus‘ eigener, im ORF ausgestrahlter Literatursendung Jour fixe verbundene Wien-Aufenthalt des bedeutenden deutschen Schriftstellers war von Kraus im Vorfeld geschickt eingefädelt worden, indem er für den ebenfalls grafisch arbeitenden Autor eine Verkaufsausstellung in einer Wiener Galerie arrangiert hatte. Sowohl über die TV-Aufzeichnung als auch über die Lesung äußerte sich Wolfgang Kraus in seinem Tagebuch äußerst zufrieden, wobei er vermerkte, dass bei der Buchpräsentation besonders viel junges Publikum anwesend gewesen sei. (Wolfgang Kraus, Tagebuch, 5. Februar 1986, Nachlass Wolfgang Kraus / ÖLA)

Oskar Werner bei der Österreichischen Buchwoche

Neben solchen von der ÖGfL im Alleingang organisierten Großveranstaltungen mit international bekannten Persönlichkeiten beteiligte sich die Literaturgesellschaft auch an in einen größeren Rahmen eingebundene Kooperationsprojekte, die regelmäßig für einen hohen Besucher*innenansturm sorgten. Eines davon war das Begleitprogramm der Österreichischen Buchwoche, das die ÖGfL von 1963 bis 1988 im Auftrag des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels programmierte und das – so Wolfgang Kraus in einem Brief an Ilse Aichinger – immer „mit viel Glanz und Gloria in der Hofburg statt[fand]“ (Wolfgang Kraus an Ilse Aichinger, 10. August 1975, ÖGfL-Archiv).

Bei den auf sechs Tagen verteilten Veranstaltungen bemühte man sich um ein besonders vielfältiges Programm; zumeist folgte den nachmittäglichen und vorabendlichen Präsentationen der Neuerscheinungen österreichischer Verlage ein „verlagsneutrales“ Programm am Abend, das neben Lesungen auch Vorträge und Diskussionsrunden beinhaltete. Bei der Auswahl der Auftretenden setzte man auf große Namen – neben dem „Who’s who“ der österreichischen Literatur – von H.C. Artmann über Ernst Jandl und Friedrich Torberg bis hin zu der schon erwähnten Ilse Aichinger – wurden mit Vorliebe österreichische Schauspieler*innen, die internationale Bekanntheit erlangt hatten, als Rezitator*innen auf die Bühne gebeten, etwa Klaus Maria Brandauer oder Oskar Werner.

Dem ehemaligen Mitarbeiter Raoul Blahacek, der von 1975 bis 1985 in der ÖGfL arbeitete und maßgeblich an der Vorbereitung, Koordination und Durchführung der Buchwoche- Veranstaltungen beteiligt war, ist insbesondere der Auftritt von Letzterem bei der Buchwoche 1977 in Erinnerung geblieben. Oskar Werners Rezitation aus der bei Zsolnay erschienenen Anthologie Das große Peter Altenberg Buch habe, so Raoul Blahacek, nicht nur die Massen angezogen:

Quellenangaben

ÖGfL-Archiv

Nachlass Wolfgang Kraus / ÖLA

Ebel, Ursula, Kiefer, Nicole: Im Rahmen des Projekts „Die Internationalisierung Wiens im Feld der Literatur am Beispiel der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 1960–1989/90 (2020–2022)“ geführtes Interview mit Raoul Blahacek, 8.9.2021.

Zitierhinweis

Kiefer, Nicole: „Mit Glanz und Gloria“: literarische Großereignisse in Wien. Abrufbar unter: https://ogl.univie.ac.at/aus-dem-archiv/mit-glanz-und-gloria-literarische-grossereignisse-in-wien/

 

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